Von Eugen Sorg
Im Gebetsraum der Gabrielskirche in Nazareth ist unter anderem die gemalte Darstellung einer Köpfung zu sehen. Ein junger kräftiger Soldat umklammert mit der einen Hand ein Schwert und in der anderen hält er einen abgeschnittenen Kopf mit langen Haaren, den er einer Frau entgegenstreckt. Zu Füssen der beiden liegt der Getötete, aus dessen Rumpf sich ein Strom von Blut über den Boden ergiesst.Die Details des grauslichen Freskos fesseln die Aufmerksamkeit, bis man realisiert, dass der Künstler im Hintergrund ein zweites Bild gemalt hat, ein grösseres, das über dem ersten zu schweben scheint. Es zeigt den Verstümmelten in seiner unversehrten, aufrechten Gestalt, einen Mann mit ernstem und gleichzeitig mildem Gesichtsausdruck. Ist das ein Porträt aus der Zeit vor dessen Hinrichtung? Nein, aus der Zeit danach, gibt das Bild selber die Antwort. Der Porträtierte trägt in den Händen eine goldene Schale, in der sein abgetrennter Kopf liegt, ein erloschener Doppelkopf. Es gibt ein Leben nach dem Tod, drückte der Maler damit aus, ein Leben als wundersam Geheilter, als Auferstandener in einer besseren Welt.
Problem mit der Besatzungspolitik
Das Bild erzählt das Schicksal von Johannes dem Täufer, Bussprediger, Endzeitprophet und Zeitgenosse Jesu, zum Tode verurteilt von König Herodes Antipas, dem Sohn jenes Herodes, der den «Bethlehemitischen Kindermord» veranlasst hatte und in der christlichen Überlieferung zur Inkarnation des Schreckens geworden ist. Obwohl vor zweitausend Jahren passiert, würde heute jeder im arabischen Raum lebende Christ in der Johannes-Ikone seine eigene Situation sofort wiedererkennen: die tödliche Bedrohung und die Sehnsucht nach Trost und Rettung.
Bethlehem ist eine arabische Kleinstadt im Palästinensischen Autonomiegebiet. Tagsüber zwängen sich Autos lärmend durch die engen Gassen der Altstadt, vorbei an Fussgängern, Souvenirläden und Restaurants.
Über 85 Prozent der Bewohner Bethlehems sind Muslime |
George Tanas Abu Aita, vierzig Jahre alt, Knautschgesicht und auffallend melodiöse Stimme, ist bekümmert. «Wir werden immer weniger», sagt der vierfache Vater, «und das ist schlecht.» Mit «wir» meint er seine Glaubensbrüder, die arabischen Christen in Palästina. Als Grund für das Verschwinden der Christen aus ihrem religiösen Herzland nennt George die Besatzungspolitik Israels und die daraus resultierenden fehlenden Jobs. «Wir haben gute Beziehungen zu den Juden», versichert er. Doch es seien die «Mauer und die Ökonomie», die die Leute in die Emigration treiben. «Bis jetzt zumindest», fügt er hinzu. – «Was kann denn sonst noch ein Grund werden?» – «Es gibt ein paar radikale Leute», antwortet er, «in Hebron.
Aber nicht hier in Bethlehem», schiebt er sofort nach, als wolle er sich selbst beruhigen, «hier ist alles friedlich.» Und sogar in Hebron, wo keine Christen mehr lebten, meint er noch, würde eine Bekannte von ihm, eine Christin, die dort als Lehrerin arbeite, gut behandelt.
Seine Stimmung hellt sich auf, als er uns in sein Geschäft führt. George verkauft religiöse Souvenirs, sein Shop ist gross wie eine Turnhalle, und auf Tischen und Gestellen liegt alles, was ein frommes christliches Herz erwärmt. Jesus am Kreuz, Jesus in der Krippe, Jesus in den Armen von Maria, Jesus mit offenem Herz, unzählige Mariendarstellungen, gemalt oder geschnitzt oder getöpfert, dazu Rosenkränze, Votivbilder, Heiligenporträts, Schmuck, Kettchen, Glücksamulette, geweihtes Wasser, auch siebenarmige jüdische Leuchter, griechische Amphoren, es glitzern die Weihnachtssterne, es duftet der Weihrauch, ein Supermarkt des heiligen Bimbam, ein Fest der süssen Devotionalien.Er sei optimistisch, meint George.
Alles was das fromme Herz erwärmt |
Der Islamische Staat bedroht Christen
Sie seien in der dritten Generation im Tourismusgeschäft, erzählt George. Er hat in England Ökonomie studiert, aber es war für ihn immer klar, dass er nach Bethlehem zurückkehre. «Ich bin hier geboren, und ich werde hier sterben. Wir Christen sind seit zweitausend Jahren hier, Jesus kam hier auf die Welt, es ist unser Land, wir sind das Rückgrat von Palästina, und ich werde es nie verlassen.» Vor den Extremisten des IS, meint er ungefragt, habe er übrigens keine Angst. «Sie hätten hier keine Chance. Woher sollten sie die Waffen haben? Unsere Grenzen sind dicht.» Und als ob er von seiner Analyse selber nicht ganz überzeugt wäre, fügt er trotzig an: «Und sogar wenn wir untergehen, wird das Christentum wieder zurückkehren.»
Proportional zum Niedergang der Christen wuchs die Zahl der Muslime. Gab es vor sechsundsechzig Jahren noch kaum eine Moschee in Bethlehem und Umgebung, stehen dort heute hundert. Dieser Vorgang findet nicht nur in Bethlehem und Palästina, sondern im ganzen arabischen Raum statt. Im Mai letzten Jahres sprach Papst Franziskus achthundert christliche Märtyrer heilig. Sie waren 1480 im italienischen Otranto von osmanischen Truppen unter Sultan Mehmed II. geköpft worden, weil sie sich geweigert hatten, zum Islam überzutreten. Dabei soll sich das Wunder ereignet haben, dass der Anführer der Aufrechten, ein alter Schneider namens Antonio Pezzulla, auch nach der Enthauptung stehen geblieben sei und es auch dem Henker nicht gelungen sei, den reglosen Körper umzuwerfen. Es war die erste Kanonisierung des neues Pontifikats und wohl gedacht als Aufruf zum Durchhalten und als spirituelle Aufmunterung der bedrängten Glaubensbrüder.
Im Juni dieses Jahres waren die Gotteskrieger des Islamischen Staates Irak und Syrien (IS) wie ein Mongolensturm über den Irak hineingebrochen und hatten neben grossen Landstrichen auch die 3-Millionen-Stadt Mossul in der Ebene von Ninive erobert. Treu nach den Vorgaben des Korans und des Vorbilds ihres Propheten schlachteten und versklavten sie Andersgläubige wie die Jesiden oder stellten sie wie die Christen als «Volk des Buches» vor die Alternativen, zum Islam überzutreten, eine hohe Kopfsteuer in Gold zu bezahlen, ihre Heimat zu verlassen oder getötet zu werden. Muslimische Nachbarn hatten den Invasoren gezeigt, in welchen Häusern Christen wohnten, worauf jene mit einem N (für Nazarener, Christen) markiert wurden. Die Flüchtlinge mussten ihren gesamten Besitz zurücklassen und durften nur behalten, was sie am Leibe trugen. Überlebende berichteten, wie IS-Krieger sogar kleinen Mädchen die Ohrringe und Halskettchen abgenommen hätten, und einige erzählten, wie man einem Jungen die Batterien aus dessen Hörgerät genommen habe. Er brauche sie nicht mehr, hätten die Bärtigen gelacht, sie gehörten jetzt dem Islamischen Staat.
Bis letzten Sommer war Mossul ein Zentrum des assyrischen Christentums. Der heilige Thomas hatte schon im I. Jahrhundert die Lehre Jesu nach Mesopotamien, den heutigen Irak, gebracht. Am Ersten Konzil von Nicäa, im Jahre 325, wo über Grundfragen des Christentums debattiert wurde, nahmen mehr Bischöfe aus Mesopotamien als aus dem europäischen Westen teil. Bis heute wurde in den Kirchen auf Aramäisch, der Sprache Jesu, gepredigt. Nun sei Mossul, berichten Zeugen, ausser ein paar Alten und Reiseunfähigen weitgehend christenfrei.
Christen in der Minderheit
Vor fünfzehn Jahren hatte der Palästinenser Johnny Shawan zusammen mit seiner deutschen Frau das «Haus der Begegnung» in Bethlehem gegründet. Rund vierhundert Besucher nehmen mittlerweile regelmässig das Angebot des Zentrums in Anspruch: Frauenrunden, Bibelkreise, Kinderhort, Spielplatz, Restaurant. Das Haus soll eine «Oase» sein, ein Ort der «Sicherheit, der Ruhe und des Glaubens», sagt der energische, etwas streng wirkende 53-Jährige.
Die Hälfte der laufenden Kosten wird mit Spenden aus Deutschland beglichen, wo Johnny lange gelebt hat und wo auch die evangelische Freikirche ihren Sitz hat, in deren Auftrag er in Palästina wirkt.Nach der Lage seiner Glaubensgenossen im Heiligen Land befragt, antwortet er: «Die Leute sind deprimiert. Sie sehen keine Zukunft hier. Als Minderheit von knapp einem Prozent sind die Christen in einer schwachen, gefährdeten Position. Und was gerade in den arabischen Nachbarländern passiert, der Aufstieg von IS, macht ihnen Angst. Jeder, der kann, wandert aus. In die USA, nach Europa.» Johnnys Familie ist seit dreihundert Jahren in Bethlehem ansässig. Seine vier Kinder leben in Deutschland, «zu Ausbildungszwecken». Ob sie zurückkehren werden, ist offen.
Oase der Sicherheit, der Ruhe und des Glaubens |
Islamisierung des Alltags in Palästina
«Könnte sich in einem eigenen palästinensischen Staat das arabische Christentum wieder erholen?», will ich wissen. «Das ist eine 10-Millionen-Dollar-Frage», antwortet er, «aber die meisten Christen würden wahrscheinlich sagen, es würde noch schlimmer werden. Unsere Situation ist verzwickt. Wir haben die Wahl zwischen israelischer Unterdrückung und islamischer Vertreibung.» Dann überlegt er einen Moment und sagt schliesslich etwas, das ihn gewiss Überwindung kostet und das er kaum in Gegenwart anderer Palästinenser laut äussern würde: «Ich bin dankbar, dass Israels starke Hand in Palästina noch präsent ist. Nur Israel stoppt die Extremisten.»Seit bald dreissig Jahren erlebe er die Islamisierung des palästinensischen Alltags. Eine ehemalige muslimische Schulfreundin habe ihm bei späteren Wiedersehen plötzlich nicht mehr die Hand gegeben und die Strassenseite gewechselt. Und er erzählt von seinem Nachbarn, einem Christen, der seinen Wohnsitz nach Ecuador verlegt hatte. Johnny wollte ihm das Haus in Bethlehem abkaufen, er aber wollte nicht verkaufen und meinte, Präsident Abbas habe ihm persönlich versichert, dass sein Eigentum nicht angetastet würde. Bald nach seiner Übersiedelung nach Ecuador sei eine muslimische Familie eingezogen. Die illegalen neuen Nachbarn hätten um seine Unterschrift gebeten, um seine Einwilligung für einen Umbau zu bekommen. Dies hätte die Besetzer faktisch in Eigentümer verwandelt. Er weigerte sich trotz offenen und anonymen Drohungen wie «Wir kennen deine Kinder».
Er kenne viele ähnliche Fälle, bei denen Christen um ihr Land und Eigentum betrogen worden seien, nur wage sich kaum jemand, offen darüber zu sprechen. Oftmals stünden muslimische Gangs hinter den Enteignungen. Die Behörden blieben häufig untätig, sei es aus Unfähigkeit, aus Feigheit, aus Rücksicht auf Claninteressen.«Wie beurteilen Sie die Zukunft der Christen in der arabischen Welt?» Seine Antwort ist keine realistische Einschätzung, sondern ein eher verzweifelt anmutendes Glaubensbekenntnis. «Ich muss Christ sein», sagt er, «ich muss leuchten in der Nacht. Jesus Christus ist der Sieger. Ich bin auf der Seite von Jesus Christus.»Die Drangsalierung und Vertreibung von Minderheiten ist eine Konstante in dieser Weltregion. Es gab immer auch Zeiten des labilen Gleichgewichts zwischen den diversen ethnischen und religiösen Gruppen. Fühlte sich die eine Seite aber stark genug, die andere zu unterwerfen, konnte die prekäre Balance unvermittelt in eine Gewaltorgie umschlagen. Über die Jahrhunderte betrachtet, lässt sich allgemein festhalten, dass überall, wo sich in einem Gebiet eine muslimische Bevölkerungsmehrheit etablieren konnte, die viel älteren jüdischen, christlichen oder anderen Bekenntnisse immer stärker unter Druck gerieten und deren Gemeinden früher oder später faktisch aufhörten zu existieren.
Verschwörungstheorien
Düster seien die Aussichten für die palästinensischen Christen, meint auch Walid Shomali, Dozent für Chemie an der Universität Bethlehem, er sei sehr pessimistisch. Aber trotz der negativen Prognose und obwohl er nicht den Trost eines soliden Gottvertrauens abrufen kann – «ich bin Agnostiker» –, macht der 56-Jährige einen aufgeräumten Eindruck. Er ist von streitbarem Temperament.
Oberster Schuldiger an der Misere der christlichen Palästinenser, stellt er gleich klar, sei Israel. Einmal als arrogante Besatzungsmacht und dann als Schutzmacht der expandierenden jüdischen Siedler, die sein Volk erstickten. Eine Bedrohung stelle auch die islamistische Bewegung dar, al-Qaida, IS, «in dieser Weltgegend kann man nie wissen, was als Nächstes passiert. Wir sind in grösster Sorge.» Als ich einwende, dass dank Israel die Christen zumindest in Palästina geschützt seien, reagiert Walid heftig.Nein, widerspricht er und hebt an zu einer jener Verschwörungstheorien, denen im arabischen Raum mit Passion gehuldigt wird und in denen am Schluss immer die Juden schuld sind. Israel, die USA und der Vatikan, behauptet er, würden Krieg wollen. Sie hätten ein Interesse an einem Nahen Osten ohne Christen. «Denn wir sind die Brücke zwischen Ost und West.» Ich versuche zu fragen, wie er auf eine solche Idee kommt, aber er ist in Fahrt gekommen. «Israel will, dass die Region in fanatische islamische Kleinstaaten zerfällt», doziert er weiter, «dann hat es einen Grund für den Krieg.»
Zur Unterstützung seiner These schweift er zurück in die Zeiten des Alten Testaments, spottet über die «Lügen und Mythen der primitiven Juden» und über die Dummheit der Christen, welche diese glaubten, und behauptet, in den antiken heiligen Büchern jenen Geheimplan zur Macht zu erkennen, dem die Juden bis heute folgten.
Als er nach fünf Minuten immer noch halsbrecherisch durch Zeit und Raum mäandriert, unterbreche ich den Vortrag. «Entschuldigen Sie», sage ich, «aber das ist Mist.» Walid schaut einen Moment überrascht, fasst sich aber sofort wieder und zeigt, dass er auch Sinn für Humor hat. «Wie kannst du so mit mir reden», meint er und setzt ein trauriges Gesicht auf, «bist du etwa ein israelischer Spion? Ich spring gleich aus dem Fenster.»Er wechselt zum Thema Demografie. Er gehöre zur kulturellen Elite, meint er, zu den christlichen Intellektuellen, und für sie sei es Pflicht, Kinder zu machen. «Wie viele haben Sie?», frage ich. – «Vier.» – «Bravo.» – «Ich bin Katholik», gibt er sich bescheiden. Er werfe den Europäern vor, fährt er fort und schaut mich an, dass sie nur ein Kind machen. «Die Fanatiker aber machen viele Kinder und werden Europa übernehmen.» Eine pakistanische Familie habe zehn Kinder. Vier würden Diebe, zwei lebten von der Wohlfahrt in Europa und zwei würden Terroristen.
Aber nur um es klar zu machen, fügt er an, er habe etwas gegen Fanatiker, nicht gegen Muslime.Er hege eine negative Bewunderung für den Islam. Dessen Leistung sei es, die Herzen und Gedanken von eineinhalb Milliarden Menschen in ein einziges Buch zu packen. Wie verrückt sei das. Eine Religion, die so viele Menschen dazu bringen könne, nicht mehr selber zu denken, sei wirklich eine Macht. Eine Supermacht der Hirnwäsche.Hätten die einen zu viel an Glauben, mangle es den anderen daran. Walid beklagt die leisetreterische Haltung der palästinensischen Christen gegenüber der muslimischen Mehrheit. Sie hätten Angst und viele würden sich minderwertig fühlen. Wenn er Bus fahre und an einem Kloster vorbeikomme, könne er beobachten, wie die christlichen Frauen verstohlen und verschämt das Kreuz schlagen würden. Sie seien nicht stolz auf ihre Zugehörigkeit. Es sei eine Tragödie.
Auch die eigene Geschichte sei vielen nicht bekannt. Im Curriculum der Schulen würden achthundert Jahre christlicher Präsenz in der Region unterschlagen. «Mir ist nicht der Glaube wichtig», schliesst Walid, «jedoch die Tradition, die Identität, das Erbe. Ich gehe selber nicht in die Kirche. Aber ich habe meine Kinder dahin geschickt. Sie müssen das kennen. Das ist meine Herzensüberzeugung. Ein Naher Osten ohne Christentum ist sehr arm.»
Völkermord an den Christen
Zum Abschied führt uns Walid durch die Universität. Sie ist eine katholische Gründung und öffnete 1973 als erste Hochschule des Westjordanlandes ihre Tore. Die Hälfte des 150-köpfigen Lehrpersonals ist christlich, ein Grossteil der dreitausend Studierenden ist muslimisch und von diesen wiederum sind drei Viertel weiblich. Auf den Gängen und den Vorplätzen dominieren die jungen Frauen mit Kopftüchern und bedeckten Armen. Vor fünfundzwanzig Jahren, bemerkt Walid, trugen die meisten ihre Haare noch offen. Heute würde sich kein muslimisches Mädchen mehr getrauen, ohne Kopftuch aus dem Haus zu gehen. Aber immerhin wäre es den christlichen Mädchen noch erlaubt, unbedeckt durch die Strassen zu gehen. «Aber nichts ist hier in Stein gemeisselt. Es gibt zu viele Verrückte in dieser Gegend.»
Universität Bethlehem |
Im November 1914 wurde in allen osmanischen Moscheen zum Heiligen Krieg gegen die Christen aufgerufen unter dem Motto «Eine Nation, eine Religion».Zwischen drei und vier Millionen wurden in den kommenden zehn Jahren erschlagen, auf Todesmärschen in die syrische Wüste getrieben, ausgehungert, in Schluchten geworfen, geköpft. Bekannt ist der Genozid an einer Million christlichen Armeniern; weniger bekannt ist die Massakrierung und Vertreibung von über einer Million pontischer und anatolischer Griechen; gänzlich vergessen ist die Ermordung von Hunderttausenden assyrischer Christen in verschiedenen osmanischen Provinzen von der Türkei über Aleppo und Mossul bis nach Ägypten. Einen «christlichen Holocaust» nannte der in Jerusalem lehrende Genozid-Forscher Israel W. Charny diese Ereignisse. Christen machen heute noch 0,2 Prozent der türkischen Bevölkerung aus.
Das Wunder der christlichen Lehre
Dass in einer der gewalttätigsten Zonen dieser Erde ein Mann wie Jesus auftauchen konnte, der Mitleid mit den Erniedrigten predigte und Liebe für die Feinde, ist bereits eine erstaunliche Geschichte. Dass seine Lehre aber Anklang fand und die Welt veränderte, eine Lehre, die das Beste im Menschen hervorbrachte und dem Schlimmsten immer entgegenstand, gehört zu den ganz grossen Geschichten der menschlichen Zivilisation. Und es kann einen Trauer überfallen angesichts der Möglichkeit, dass im Heiligen Land, der Wiege des Christentums, in Zukunft keine Christen mehr leben könnten. Die bedrängten orientalischen Christen dürfen kaum auf Beistand zählen. Nur religiöse Hilfswerke wie Kirche in Not leisten karitativen Support, können aber weder Vertreibung noch Auswanderung stoppen.
Den postchristlichen, säkularen Westen aber lässt deren Schicksal seltsam kalt. Sie fühlen keine Verbindung mehr mit ihren frommen Verwandten. Viel stärker als die Eliminierung der assyrischen Christen durch den IS berührte das Publikum in unseren Breitengraden diejenige der Jesiden, eines alten, vorchristlichen Kleinvolkes. Dass Israel das einzige Land im Nahen Osten ist, in dem die Christen weder physisch bedroht noch kulturell drangsaliert werden, sollte seinen vielen Schmähern zu denken geben.
Nur im Judenstaat hat die Zahl der Christen nicht ab-, sondern zugenommen. Einige Schätzungen gehen von 300 000 aus, was doppelt so viele wären wie vor fünfzehn Jahren. Der Zuwachs verdankt sich vor allem Einwanderern und Asylsuchenden aus Osteuropa, den Philippinen, Afrika.
Im israelischen Nazareth, der Heimatstadt Jesu, steht die Basilika der Verkündigung, eine der heiligsten Stätten der Christen. Gemäss Überlieferung erschien hier der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria. Das Gotteshaus existierte wahrscheinlich schon im 4. Jahrhundert, wurde später mehrmals von muslimischen Eroberern zerstört und von den Anhängern Jesu immer wieder aufgebaut. Es ist der grösste christliche Sakralbau im Nahen Osten.Auf das Jubiläumsjahr 2000 war ein Besuch des Papstes angesagt. Um möglichst vielen Gläubigen den Besuch der Messe zu ermöglichen, sollte der Platz vor der Basilika vergrössert werden. Dies passte bestimmten muslimischen Kreisen nicht.
Sie besetzten den Platz und machten geltend, dass der Ort für Nicht-Muslime gesperrt sei. Er sei geheiligt, da in der Erde die Knochen eines Neffen von Saladin, dem Eroberer Jerusalems, begraben wären. Und sie kündigten an, dass dort eine Moschee gebaut werden soll, gleich neben der Basilika und noch grösser als diese. Eine Provokation, die das prekäre Gleichgewicht der Stadt störte und zu Unruhen führte.
islamische Banner neben der Verkündigungsbasilika |
Dank Israel
Das israelische Oberste Gericht entzog dem Moschee-Komitee die Baubewilligung, und etwas später wurde diesem zugestanden, eine in der Nähe bereits bestehende Moschee ein wenig zu vergrössern. Es war das Verdikt eines Rechtstaates, der auch die Mittel hat, es durchzusetzen. Den Muslim-Aktivisten blieb keine andere Wahl, als ihm Folge zu leisten. Obwohl sie sich moralisch nach wie vor überlegen und im absoluten Recht wähnten.
Wer in diesen Tagen in Nazareth zur Basilika spaziert, kommt an den Bannern vorbei, die seit jenem Machtkampf an der Moschee ausgehängt sind. Sie sind beschriftet mit Suren aus dem Koran, zum Beispiel der Sure 2, Vers 171, einer Drohung an die Christen: «O ihr Leute des Buches, übertreibt nicht in eurer Religion und sagt über Gott nur die Wahrheit. Christus Jesus, Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes... Hört auf, das ist besser für euch...»
Doch in der Stadt ist wieder Ruhe eingekehrt. Dafür sorgt der israelische Sicherheitsapparat. In der Basilika gehen jeden Tag Hunderte Besucher ein und aus, Christen aus Israel und aus aller Welt, unbehelligt, in Sicherheit. Eine Gruppe pensionierter Amerikaner, ausgerüstet wie für eine Religionssafari mit Sporthosen, Sonnenkäppis und Wasserflaschen, lässt sich auf Englisch eine Messe lesen. Korpulente Russen in Pilgertüchern berühren sanft Statuen der heiligen Mutter Maria und schlagen murmelnd ein Kreuz, den kahl geschorenen Kopf demütig gesenkt. Eine Schar Eritreer, Männer, Frauen, Kinder, alle prächtig gekleidet wie zur Begrüssung des Erlösers selber, bewegt sich durch die Kirche, leise, staunend, beeindruckt von deren Grösse und Herrlichkeit. Sie leben im Süden von Tel Aviv, es sind Flüchtlinge, die Geschichten aus der christlichen Überlieferung sind für sie real, sie haben sie persönlich erlebt: Auszug aus der Heimat, Flucht durch die Wüste, Massaker, Dürren, Hunger, Rettung.
Von der Basilika sind es nur ein paar Schritte bis zur Gabrielskirche, wo sich das Bildnis von der Enthauptung des Johannes befindet. Auf dem Kirchplatz hat sich eine Hochzeitsgesellschaft arabischer Christen versammelt. Die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Kinder rennen herum, viel Jungvolk ist anwesend und auf Stühlen die Eltern und Grosseltern, die mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut die wunderbaren Früchte ihrer Liebe und Mühe betrachten. Es ist ein Bild des prallen Lebens, die jungen Frauen hinreissend gekleidet, enge Blusen, in den Kleidern hohe Schlitze, freie Rücken, gewagte Stilettos, eine Feier der raffinierten Sinnlichkeit. Sie schnattern und scherzen und bewegen sich ungezwungen unter den Männern, die, elegant und souverän, sich freuen an der Schönheit ihrer Schwestern, Cousinen und Freundinnen. Der Kontrast zur Verhüllungsmanie, zur Geschlechtertrennung, zur patriarchalen Kontrollsucht einer aggressiv expandierenden muslimischen Rechtsgläubigkeit könnte schlagender nicht sein. Zwei unvereinbare Welten treffen aufeinander. Die eine würde die andere leben lassen, aber diese duldet nichts ausser sich selbst. Nur eine kann als Sieger hervorgehen. Die Situation der Christen in Nahost ist fürchterlich. Aber noch nicht ganz verloren.
aus: DAS MAGAZIN Das MAGAZIN ist die wöchentliche Beilage des Schweizer Tages-Anzeigers, der Basler Zeitung, der Berner Zeitung und von Der Bund.