26.7.07

Interview mit Tony Judt

Der Historiker Tony Judt * gab einer Reporterin der TAZ ein Interview über den Begriff der Diaspora im Zusammenhang mit der Identifikation der Juden in den USA und Europa mit ihr und Israel.

Hier die wesentlichen Auszüge aus dem Interview:

TAZ: Spaltet sich die jüdische Diaspora?

In gewisser Weise ja. Die Israel-Lobby ist nicht rein jüdisch, sie umfasst auch christliche Gruppen, ist aber eine politische Institution, die nahezu ausschließlich in Washington existiert. In politischen Fragen ist die Mehrheit der amerikanischen Juden eher liberal als konservativ. Nur in Bezug auf Israel kommt es zu solch einer Spaltung, aber nicht nur als Spaltung innerhalb der Gemeinde, sondern als eine Spaltung des öffentlichen Diskurses.

TAZ: Muss sich die Diaspora durch das Verhältnis zu einem Territorium, in diesem Fall, Israel definieren?

Ja, das ist ein interessantes Paradoxon. Amerikanische Juden sprechen nicht Jiddisch, auch nicht Hebräisch, sie gehen nicht in die Synagoge, sie sind völlig amerikanisch. Ihr Judentum bestimmt sich durch zwei Momente: durch eine Identität im Raum, das ist die Identifikation mit Israel, Und durch eine Identität in der Zeit, eine Identifikation mit Auschwitz. Jude sein in Amerika bedeutet, Auschwitz erinnern und Israel unterstützen, weil Israel der beste Schutz vor einem neuen Holocaust ist. Und das ist sehr spezifisch amerikanisch, auch wenn ein paar französische Intellektuelle versuchen, das zu reproduzieren oder zu importieren.

TAZ: Wie sollte sich die Diaspora dann definieren? Etwa antizionistisch?

Nein, ich denke nicht, dass sie antizionistisch sein sollte, aber wir können nicht so weitermachen, Juden, wenn sie in anderen Ländern Staatsbürger sind, identifizieren sich auch mit Israel, wenn Israel Dinge tut, die antiisraelische, antijüdische Gefühle hervorruft. Auf gewisse Weise produziert die Diaspora den Antisemitismus - durch ihre Weigerung, eine Differenz zwischen sich und dem unabhängigen Staat Israel zu machen. Wir müssen eine Wahl gegen solch eine negative Diaspora treffen. Das bedeutet, dass Juden in Amerika, in England oder in Österreich einen Weg finden müssen, Jude zu sein und Österreicher. Die liberale Geschichte der Diaspora muss eine der Integration sein. Es gibt keinen dritten Weg.

TAZ: In Ihrem Buch "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart" schreiben Sie, dass die Erinnerung an die Schoah die Humanität des heutigen Europas garantiert. An Israel kritisieren Sie aber genau dieses Erinnern.

In Frankreich, Österreich oder Polen ist das Erinnern an die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs absolut zentral für die Identität Europas. Und wenn sie nicht mehr erinnert werden können, müssen sie gelehrt werden. Sie sind das Kernstück unserer kollektiven Identität. Aber in Israel ist dieses Erinnern pervertiert. Dort ist es das wesentliche pädagogische Werkzeug, das Israelis lehrt, sie seien immer Opfer, das Loyalität mit Israel erzeugt - kurz, es ist das, was Israel daran hindert, ein normaler Staat zu werden.


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*) Der britische Historiker, Author und Professor Tony Judt leitet das Remarque Institut in New York. Er ist ein Experte bezüglich der Geschichte Europas und hat aufschlussreiche kritische Analysen und Essays über die Politik Israels sowie umfangreiche Werke, wie : „Geschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart“ geschrieben.

taz.de

Israel, die Alternative (von Tony Judt)

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