17.2.13

Wie es dazu kam, dass der Nachfahre eines SS-Mannes vor der Knesset spricht


Das ist Uri Hanoch.

Uri Hanoch war 13, als seine Familie 1941 ins Ghetto Kauen (Kaunas) in Litauen gebracht wurde. Im Ghetto arbeitete er als Bote des deutschen Reichsarbeitsministeriums. Unter Einsatz seines Lebens stahl er Bescheinigungen, mit deren Hilfe es vielen Menschen gelang, aus dem Ghetto zu fliehen. Hanoch verlor seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester, die ermordet wurden. Er selbst wurde durch eine weitere Arbeit gerettet, die ihm zugewiesen wurde – der Lagerkommandant beauftragte ihn mit der Reinigung seines Büros. 1945 wollte man ihn mit einem Zug ins Konzentrationslager Dachau deportieren, der auf dem Weg bombardiert wurde. Es gelang Hanoch, aus dem Zug zu springen und in den Wald zu fliehen, obwohl er beschossen wurde. Nach Kriegsende wanderte er mit seinem Bruder Dani ins damalige Britische Mandatsgebiet Palästina aus.
Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Hanoch hat sich in Israel ein neues Leben aufgebaut, eine Familie gegründet und hatte leitende Funktionen in Organisationen zur Unterstützung von Holocaust-Überlebenden inne. 

Eines Tages, vor etwa 15 Jahren, „passierte etwas Merkwürdiges“, wie er sagt. In Deutschland stellte sich heraus, dass sogar in der Zeit der Shoah Sozialversicherungsbeiträge für einen Teil der Juden in den Ghettos abgeführt wurden, die bei Deutschen gearbeitet hatten. Dies bedeutete, dass diesen Juden eine Rente zustünde. 
„Als wir im Ghetto waren, wussten wir davon nichts. Uns wäre im Leben nicht in den Sinn gekommen, dass man uns bezahlen würde. Wir wussten nur, dass wir zur Arbeit gehen und abends wieder nach Hause – außer, wenn man uns in ein Konzentrationslager schickt, um uns umzubringen“, sagt Hanoch. In jedem Ghetto gab es andere Verfahrensweisen. Im Ghetto Kauen, wo Hanoch arbeitete, zahlten die Deutschen die Löhne für die Arbeit an den Judenrat – der von dem Geld notwendige Produkte erwarb. „Es ist verrückt. Einerseits werden wir abgeschlachtet, andererseits werden Sozialversicherungsbeiträge abgeführt“, so Hanoch.

2002 wurde in Deutschland ein Gesetz verabschiedet, das es Menschen, die in den Ghettos gearbeitet hatten, ermöglichen sollte, die Renten zu erhalten, die ihnen zustehen. Etwa 70.000 Überlebende – die Hälfte von ihnen Israelis – reichten Rentenanträge ein. Mehr als 90% davon wurden abschlägig beschieden.
Die Argumente waren beinahe ebenso absurd wie die Tatsache, dass überhaupt Rentenbeiträge für Juden abgeführt wurden, die die Deutschen umzubringen planten. „Die Sozialgerichte verlangten von den Überlebenden Lohnabrechnungen und Nachweise dafür, dass sie tatsächlich gearbeitet hatten. Es war ein beispielloser Skandal“, erzählt Emmanuel Nahshon, Gesandter der israelischen Botschaft in Berlin, der die juristischen Abläufe verfolgt hat.

Jan-Robert von Renesse
Eine unerwartete Wendung erhielt die Angelegenheit, als einer der deutschen Richter, die mit der Bearbeitung der Rentenanträge befasst waren, sich entschied, sich an die Seite der Überlebenden zu stellen. Der Richter Jan-Robert von Renesse kritisierte seine Richterkollegen offen und scharf. Von Renesse, 47, ist Enkel eines SS-Mannes. Seine Frau ist Polin, deren Großvater in einem Konzentrationslager ermordet wurde.
„Ich war schockiert, dass die Richter, meine Kollegen, sich nicht an Historiker und Experten gewandt hatten“, sagte er. „Sie sind einfach auf Wikipedia gegangen und haben sich von dort eine unvollständige Liste der Ghettos heruntergeladen. Wenn ein Überlebender einen Antrag gestellt hat, der in einem Ghetto war, das auf der Liste nicht auftauchte – wurde sein Antrag abgelehnt. 

Ich habe ihnen gesagt, dass das so nicht geht, dass wir einen beratenden Historiker brauchen. Sie erklärten mir, dass das zu teuer sei, dass das zu lange dauern würde und Wikipedia ausreichend sei.“
„Der einzige Beweis dafür, was sie durchgemacht haben, über den die meisten Überlebenden verfügen, ist die Nummer auf dem Arm. Es hat schließlich niemand von der SS ein Dokument erhalten, in dem ihm für seine Arbeit gedankt wird oder etwa einen Rentenbescheid. Wir, die Deutschen, können ihnen doch nicht sagen: ‚Ihr seid selbst schuld, wenn Ihr das nicht nachweisen könnt‘“, erläutert von Renesse. „Es handelt sich hier um Menschen, die während des Krieges gearbeitet haben und für die Rentenbeiträge abgeführt wurden. Warum sollen sie das Geld dann nicht bekommen? Wie kann es sein, dass Deutsche, die während des Krieges gearbeitet haben, ihre Rente erhalten und jüdische Überlebende nicht?“

In seinen Anstrengungen, angemessen auf diese Nöte einzugehen, tat von Renesse etwas, das in den deutsch-israelischen Beziehungen einzigartig war. Er öffnete in Israel eine Art Vertretung des zuständigen Sozialgerichts, um den Überlebenden die Möglichkeit zu geben, persönlich vor einem deutschen Sozialrichter zu erscheinen und dort auszusagen, anstelle lediglich Antragsformulare auszufüllen.
Zwischen 2007 und 2010 besuchte von Renesse Israel acht Mal und nahm Aussagen von etwa 120 Menschen auf. Er verpflichtete sogar das Direktorium der Deutschen Rentenversicherung dazu, zu Verhandlungen nach Israel zu reisen. "Bei jeder normalen Gerichtsverhandlung spricht der Richter mit den beiden Seiten. Das ist selbstverständlich. Aus welchem Grund sollte es mir verboten sein, mit den Überlebenden zu sprechen?“

Rechtsanwalt Yoel Levy, Gründer der Deutsch-Israelischen Juristen-Vereinigung, nahm als Zuschauer an diesen Verhandlungen teil. „Die Überlebenden waren sehr aufgeregt, angesichts dessen, dass ein deutscher Richter sie anhört. Für einen Teil von ihnen war es das erste Mal, dass überhaupt jemand ihre Geschichte angehört hat. Es war wirklich sehr außergewöhnlich“, so Levy.

Von Renesse gab sich mit den Aussagen, die er gesammelt hatte, nicht zufrieden. Er richtete ein Team von Dutzenden Historikern ein, die eine umfassende Studie erstellten und mehr als 500 Berichte zur Arbeit von Juden in den Ghettos abfassten. „Die Deutschen wollten die Juden zwar umbringen und die Beweise dafür vernichten, aber für jeden Brief oder jede Erwähnung gibt es einen Durchschlag. Wenn das Archiv des Ghettos vernichtet wurde, kann man dafür die Kopien im Archiv der Steuerbehörde finden. Mit genug Zeit und Mitarbeitern kann man eine überwältigende Zahl von Beweisen finden“, erklärt von Renesse.

Etwa 90% der Anträge, die durch von Renesse verhandelt wurden, wurde stattgegeben. Tausende erhielten dank seiner die Renten, die ihnen zustanden. Die deutschen Behörden waren davon weniger begeistert. Hintergrund für die Position der Deutschen war die Sorge vor einer Klagewelle, die den deutschen Steuerzahler viel Geld gekostet hätte. Auch die deutsche Bürokratie verhinderte, dass die Beamten die Menschen hinter den Anträgen hätten sehen können. Der Gesandte Nahshon von der israelischen Botschaft in Berlin schätzt, dass Deutschland heute noch etwa 50.000 Überlebenden aus den Ghettos noch etwa 500 Millionen Euro schuldet. Das heißt also, etwa 10.000 Euro pro Überlebenden.

Von Renesse blieb mit seinem Engagement allein. Seine Kollegen und Vorgesetzten taten alles, um ihn in seiner Arbeit zu behindern. „Sie haben begonnen, ihn zu schikanieren und gegen ihn zu intrigieren. Sie haben gegen ihn Disziplinarverfahren wegen übertriebener Benutzung der Heizung in seinem Büro eingeleitet und ihn sogar in ein Büro neben der Toilette versetzt“, erzählt Rechtsanwalt Levy. Der aufmüpfige Richter wurde letzten Endes gegen seinen Willen auf einen anderen Posten versetzt – und die Fälle, die er bearbeitete, wurden ihm entzogen. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen wollte sich auf Anfrage zu dem Fall nicht äußern.

Jan-Robert von Renesse, Emmanuel Nashon und Uri Hanoch
Israel stellte sich allerdings an seine Seite. Er wurde eingeladen, in der Knesset zu sprechen, traf Präsident Shimon Peres und wurde von Rechtsanwalt Levy unterstützt, der sich im Namen der Anwaltskammer an jede nur denkbare Behörde in Deutschland wandte. „Er ist ein Heiliger in Sodom und ein Gerechter unter den Völkern“, so Levy. „Er ist ein Held des jüdischen Volkes“, so Nahshon.
„Ich kämpfe nicht für mich und auch nicht für die Überlebenden. Ich tue das für das Erbe des deutschen Rechtswesens an sich. Wenn ein Richter das Gefühl hat, dass auf ihn unrechtmäßiger Druck ausgeübt wird und seine richterliche Unabhängigkeit davon berührt ist – muss er so handeln, wie ich es tue“, erklärt von Renesse.

2009 hat von Renesse auch Unterstützung vom Bundesverfassungsgericht erhalten, das Regeln aufgestellt hat, die einen Teil der bürokratischen Hürden in der Angelegenheit beilegen. Doch viele der Hürden bestehen fort, unter anderem die Frage, was mit den Anträgen passiert, die in der Vergangenheit abgelehnt wurden.

In der Zwischenzeit wird das Thema in der Bundesregierung und im Bundestag auf höchster Ebene diskutiert. Vor etwa zwei Monaten wurde Uri Hanoch eingeladen, vor dem Sonderausschuss des Bundestages zu erscheinen, der mit der Angelegenheit befasst ist. „Ich habe ihnen gesagt, dass sie das Gesetz ändern müssen, weil wir gerade jetzt, im Alter, das Geld brauchen. Das sind keine Entschädigungszahlungen – es ist Geld, das uns zusteht für Arbeit, die wir geleistet haben“, so Hanoch.

In einigen Wochen wird der Bundestag sich in einer Sonderdebatte mit dem Thema beschäftigen. Die Überlebenden hoffen, dass an ihrem Ende eine Änderung des Gesetzes zu ihren Gunsten steht. „Die Zeit ist reif“, so Emmanuel Nahshon. „Die Bundesregierung und die Bundestagsfraktionen müssen jetzt eine Entscheidung treffen und einen Weg finden, diesen Überlebenden zu helfen. Es muss eine politische Entscheidung sein, keine juristische. Und sie wird ein weiteres Kapitel in den komplizierten Beziehungen zwischen Israel und Deutschland schreiben.“ 

Der Artikel (gekürzt) ist übersetzt aus dem Original von Haaretz v. 15.Februar. 
Auch erschienen: israelNACHRICHTEN 



Siehe auch: "Two Brothers Struggle To Survive the Holocaust" Video über Uri Hanoch

1 Kommentar:

Mirjam hat gesagt…

19. Februar 2013
Die Tageszeitung Yedi’ot Acharonot hat heute einen Beitrag veröffentlicht, in dem es heißt, die Bundesregierung verzögere absichtlich eine Einigung beim Thema Renten für ehemalige Ghettoarbeiter, um auf Israel Druck in der Frage des Siedlungsbaus ausüben zu können.

In einer Stellungnahme des israelischen Außenministeriums heißt es dazu:

„Die Aussagen in einem heute veröffentlichten Artikel in der Zeitung Yedi‘ot Acharonot, in dem es um Reparationszahlungen geht, entsprechen nicht den Tatsachen und spiegeln mit Sicherheit nicht die Position der israelischen Regierung wider.

Unserer Kenntnis nach besteht keinerlei Zusammenhang zwischen der Bearbeitung von Anträgen von Überlebenden der Shoah auf Rentenzahlungen und dem Siedlungsbau.

Israel kooperiert mit der deutschen Seite, einschließlich des Kanzleramts, um zeitnah eine umfassende Lösung für die Problematik der Ghettorenten zu finden.

Die Regierungen von Israel und Deutschland stehen bereits seit mehreren Jahren in einem engen Dialog, der eine breite Palette von Themen umfasst, was die ausgezeichneten Beziehungen zwischen den beiden Ländern reflektiert.“

Ganz ehrlich: eine Verzögerungstaktik der Bundesregierung ist aber doch durchaus denkbar, nach dem im vorstehenden Artikel Erzählten.